Tobias Weiß
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B2B
Teure Fehleinschätzung
Mehr als 80 Prozent der Kunden schätzen ihre Bedeutung anders ein als das Anbieterunternehmen. Das ergab eine aktuelle Studie für den B2B-Bereich. Für die Anbieterunternehmen kann diese verzerrte Wahrnehmung teuer werden, erläutert der Ökonom Tobias Weiß.

Herr Dr. Weiß, Sie sagen, Kunden würden ihre Bedeutung für das Anbieterunternehmen oft überschätzen. Wie kommen Sie darauf?

Tobias Weiß: Man geht in der Psychologie davon aus, dass sich beide Seiten eine eigene Meinung bilden. So bildet sich ein Anbieterunternehmen eine Meinung über seine Kunden – zum Beispiel stuft es im Rahmen der Kundenpriorisierung den einen Kunden als besonders wichtig und den anderen als etwas weniger wichtig ein. Es liegt auf der Hand, dass sich auch ein Kundenunternehmen eine Meinung darüber bildet, wie wichtig es für den Anbieter ist.

Inwiefern ist es wichtig für einen Anbieter, wie sein Kunde sich selbst einschätzt?

Wenn wir mit einem Unternehmen in Verhandlungen treten, etwa über Preise, Konditionen oder Lieferzeiten, dann nehmen wir diese Selbsteinschätzung in Gedanken ja mit in die Verhandlung: Wie wichtig bin ich für das andere Unternehmen? Das spielt durchaus eine Rolle für meine Verhandlungsposition.

Aus diesen Vorüberlegungen heraus habe ich mir die Frage gestellt: Wie zutreffend ist denn die Selbsteinschätzung eines Kundenunternehmens über seinen Rang beim Anbieter? Einfaches Beispiel: Ein Unternehmen wird vom Anbieter als C-Kunde eingestuft. Stuft sich das Kundenunternehmen ebenfalls als C-Kunde ein? Oder hält es sich für einen B- oder gar für einen A-Kunden? Das war meine zugrunde liegende Fragestellung.

König Kunde
„Wenn wir mit einem Unternehmen in Verhandlungen treten, dann nehmen wir diese Selbsteinschätzung in Gedanken ja mit in die Verhandlung: Wie wichtig bin ich für das andere Unternehmen? Das spielt durchaus eine Rolle für meine Verhandlungsposition."

Wie sind Sie vorgegangen?

Ich habe dazu mit einem großen Industrieunternehmen aus dem produzierenden Gewerbe zusammengearbeitet. Meine Ergebnisse beruhen also nicht auf einem rein theoretischen Konstrukt, sondern auf der empirischen Analyse von wirklichen Unternehmensdaten, Befragungen und harten Daten, zum Beispiel aus dem Bereich Customer Relationship Management (CRM). In Kundenbefragungen habe ich deren Selbsteinschätzungen ermittelt und mit den Unternehmensdaten abgeglichen.

Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Die überwältigende Mehrheit, über 80 Prozent der Kunden, schätzen ihre eigene Wichtigkeit aus Anbietersicht falsch ein! Entweder sie überschätzen sich, schätzen sich also als zu wichtig ein, oder sie unterschätzen sich.

Ist es nicht sehr oft so, dass Menschen ihre eigene Rolle für wichtiger halten, als ihre Umwelt das tut?

Jein. Anhand der Daten  lässt sich sehen, dass beide Fehleinschätzungen in etwa zu gleichen Teilen vorhanden sind – diejenigen, die ihre Bedeutung überschätzen, halten sich ziemlich genau die Waage mit denen, die ihre Bedeutung unterschätzen.

Welche praktischen Folgen haben diese Fehleinschätzungen für Unternehmen?

Diese Kunden werden in Verhandlungen im B2B-Geschäft anders auftreten und eine andere Anspruchshaltung an den Tag legen. Die Fehleinschätzung kann, wie gesagt, in beide Richtungen ausschlagen; aber besonders interessant sind für mich die Kunden, die ihre Bedeutung überschätzen.

In solchen Fällen werden die Kunden ihrem Anbieter gegenüber fordernder. Sie fühlen sich dazu vollkommen berechtigt, denn sie sind ja überzeugt, dass sie ein sehr wichtiger Kunde sind. Sie stellen dann höhere Ansprüche an die Produktqualität, an Konditionen, aber auch an die persönliche Betreuung. Da herrscht dann die Haltung: „Wenn ich anrufe, dann muss ich direkt meinen Betreuer sprechen können! Auch nach Feierabend und am Wochenende!“

Ich habe überprüft, ob diese Vermutung zutrifft, und die Daten bestätigen das: Kunden, die sich wichtiger einschätzen, verlangen mehr. Mehr Betreuung, höhere Qualität, bessere Konditionen. Das führt zu höheren Kosten beim Anbieter.

König Kunde
„Besonders interessant sind für mich die Kunden, die ihre Bedeutung überschätzen. In solchen Fällen werden die Kunden ihrem Anbieter gegenüber fordernder."

Wenn ich nun weiß, dass der Kunde X sich wichtiger nimmt, als er für mein Unternehmen eigentlich ist – wie gehe ich mit diesem Wissen um?

Zunächst einmal braucht Ihr Unternehmen das Wissen, dass der Kunde überhaupt eine eigene Wahrnehmung dazu hat, wie wichtig er für Sie ist. Zweitens sollte Ihr Unternehmen wissen, dass es sich möglicherweise um eine verzerrte Wahrnehmung handelt, und dass dies Konsequenzen hat.

Ich halte das für sehr wichtig für jeden Vertriebsmanager: Man sollte wissen, wie viel erhöhten Betreuungsaufwand diese Fehleinschätzung mit sich bringen kann, wie viel zusätzliche Mühe, Zeit und Kosten man in einzelne Kunden investiert, bei immer knappen Ressourcen.

Nehmen wir also Ihr Beispiel: Sie finden, dass Ihr Kunde seine Rolle für Ihr Unternehmen überschätzt. Wie gehen Sie vor? Auf jeden Fall: sensibel, denn wenn Sie den Kunden vor den Kopf stoßen, geht er möglicherweise – und das wollen Sie ja auch nicht.

Sie könnten aber den Grad der Leistungen, die Sie dem Kunden angedeihen lassen, im Zeitverlauf reduzieren und mit Fingerspitzengefühl kommunizieren.

Wie kommt diese verzerrte Wahrnehmung überhaupt zustande?

Auch das habe ich mir angesehen und einige „Treiber“, also Einflussfaktoren identifizieren können.

Ein Beispiel: Wenn ich als Anbieter dem Kunden den Eindruck vermittle, dass er für mich ganz besonders wichtig ist, dann werde ich häufig bei einer Reklamation auch an den eigentlichen Richtlinien und Regeln vorbei eine Lösung suchen, also auf dem „kurzen Dienstweg“. So kann vorkommen, dass der Kunde denkt, er gehöre tatsächlich zu den besonders wichtigen Kunden. Er fühlt sich also nicht nur ein bisschen gebauchpinselt, sondern er bekommt eine andere Wahrnehmung seiner Wichtigkeit.

Ein anderer Treiber ist, wenn Kunden den Eindruck vermittelt bekommen, dass sie ganz besondere Leistungen erhalten, die nicht jeder andere Kunde bekommt. Etwas Besseres. Das ist im Vertrieb ja verbreitet, dass der Verkäufer oder Berater sagt: „Eigentlich machen wir das nicht, aber du bist einer unserer ganz Wichtigen, für dich machen wir das mal. Aber sag’s nicht weiter!“ Genau das kann eine Anspruchshaltung erwecken, die dann letztlich mit Mehrkosten zu Buche schlägt.

Wie kann ich das vermeiden?

Als Anbieterunternehmen muss ich darauf achten, welchem Kunden ich dieses Gefühl vermittle. Ich habe mehrere Möglichkeiten: Ich kann jedem Kunden sagen – egal, ob er ein A-, B- oder C-Kunde ist: „Für Dich machen wir das.“ Auch wenn es für jeden gemacht wird. Damit fördere ich aber das Anspruchsdenken auch meiner weniger wichtigen Kunden.

Deswegen sollte ich im Vertrieb darauf achtgeben, dass ich nur den wirklich prioritären Kunden dieses Gefühl vermittle – und den weniger prioritären Kunden eben nicht, auch wenn sie die gleiche Leistung erhalten. Das ist eine reine Kommunikationssache.

Als Vertriebler will man doch jedem Kunden das Gefühl geben, dass er ein ganz besonderer Kunde ist – oder?

Nicht unbedingt. Unterschiedliche Unternehmen stellen in unterschiedlichem Maß Transparenz darüber her, ob Sie zu den besten zehn Prozent ihrer Kundschaft gehören. Manche Unternehmen sind in diesem Punkt überaus transparent, andere wollen das auf gar keinen Fall – sie lassen lieber alle Kunden in dem Glauben, Top-Kunden zu sein.

Das kann man natürlich machen. Nur: Wenn ich als Unternehmen meine Kunden grundsätzlich zufriedenstellen möchte – und das sollte ich im eigenen Interesse unbedingt tun -, dann ist die Frage, wie ich darüber kommuniziere.

Vielleicht kommuniziere ich meine Leistungen bei dem einen Kunden weniger offensiv. Der Kunde wird dennoch zufrieden sein, er wird mich weiter wählen und weiter bei mir kaufen, er wird loyal sein. Ich muss vor allem darauf achten, dass er mit der Leistung zufrieden ist.

König Kunde
„Ich muss vor allem darauf achten, dass der Kunde mit der Leistung zufrieden ist."

Sprechen wir über die anderen über die anderen 40 Prozent – also über die Kunden, die ihre Bedeutung für mein Unternehmen unterschätzen. Welche Konsequenzen hat diese Fehleinschätzung?

Wir haben ja gesehen, dass die nach oben verzerrte Wahrnehmung negative Folgen haben kann. Interessanterweise gilt das auch für die nach unten verzerrte Wahrnehmung. Diese Kunden haben oft eine schwächere Bindung zu ihrem Anbieter, sie sind eher abwanderungsgefährdet. Das kann dem Unternehmen auch nicht recht sein.

Woran merke ich, dass ein Kunde seine Bedeutung für mein Unternehmen unterschätzt?

Wenn ich mir als Anbieterunternehmen erst einmal klargemacht habe, wie wichtig ein Kunde für mich ist, dann kann ich das im persönlichen Gespräch mit dem Kunden abgleichen – sensible Gesprächsführung vorausgesetzt.

Ich kann feststellen, wie hoch seine Bindung an mein Unternehmen ist, und ich werde sehr schnell merken, wenn er mir gegenüber allzu fordernd auftritt.

Ein guter Indikator ist auch die Häufigkeit der Interaktion, also die Frage, ob sich der Kunde oft oder eher selten bei mir meldet. Wenn sich ein Kunde selten meldet, obwohl meine Leistung für ihn wichtig ist, kann das Alarmsignal sein.

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Tobias Weiß
Zur Person: Tobias Weiß (37), promovierter Ökonom, ist Leitender Manager bei einem deutschen Markenartikler für Sicherheitstechnik. Er hat mehr als zwölf Jahre Erfahrung in Wissenschaft, Forschung und Managementpraxis. 

 

(Bild oben: Shutterstock, privat)
– 16. September 2021