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Inflation/Kommentar
Inflation essen Schulden auf
Für die Europäische Zentralbank sind Zinssenkungen vor allem deshalb kein Thema, weil dann eine neue Eurokrise ins Haus stünde. Die EZB scheint darauf zu hoffen, die exorbitante Gesamtverschuldung des Euroraums weginflationieren zu können – ein fragwürdiger Weg, findet unser Autor.

Lange Zeit war Inflation kein Thema, im Gegenteil. Minus-Inflationsraten schienen eine gefährliche Deflation sogar wahrscheinlicher zu machen. Doch nun zeigt sich das Gespenst wieder. Im Oktober erreichte die Inflationsrate in Deutschland gegenüber dem Vorjahresmonat 4,5 Prozent und überschritt damit das Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von zwei Prozent deutlich.

Das ist der höchste Preisanstieg seit 28 Jahren. Vor allem Kohle-, Öl- und Gaspreise steigen exorbitant. Fehlende Halbleiter und gestörte Lieferketten lassen die Preise in der Eurozone und darüber hinaus steigen und belasten die Geldwertstabilität. Zum Jahresende hält die Deutsche Bundesbank eine Preissteigerungsrate von hierzulande fünf Prozent für möglich.

Die für die Geldwertstabilität verantwortlichen Notenbanken scheuen sich, auf eine restriktive Geldpolitik umzuschwenken, den Leitzins zu erhöhen und die Anleihenkäufe zu stoppen. Zu groß ist die Furcht, die ohnehin schwächelnde Konjunktur zusätzlich zu belasten.  

Das Kernproblem: Eurostaaten im Süden verkraften gar keinen Zinsanstieg

Die EZB plagt aber mehr noch die hohe Gesamtverschuldung, vor allem die der südlichen Eurostaaten. Die Schuldenlast ist mittlerweile so hoch, dass diese Länder einen Zinsanstieg gar nicht verkraften würden, eine erneute Eurokrise könnte die Folge sein. 

Mit dem einstigen EZB-Präsidenten Mario  Draghi hat die EZB-Geldpolitik eine Wende vollzogen, die es ihr heute schwer macht, ihrer eigentlichen Aufgabe – der Wahrung der Geldwertstabilität – nachzukommen.

 

„What ever it takes“: Italiens derzeitiger Premierminister Mario Draghi. Draghi öffnete während seiner Amtszeit als EZB-Präsident die Geldschleusen und schickte die Zinsen in den Keller. Das brachte Linderung, aber keine Lösung der südeuropäischen Schuldenprobleme.

Draghi glaubte, in der Folge der damaligen Griechenlandkrise die Währungsgemeinschaft nur zusammenhalten zu können, indem er die Geldschleusen weit öffnete und die Zinsen auf Talfahrt schickte: „What ever it takes“, so Draghis Schlachtruf.

Das billige Geld bewirkte aber weder, dass die hochverschuldeten Länder ihre Volkswirtschaften in ausreichendem Maße umstrukturierten, um international wettbewerbsfähiger zu werden, noch gelang es, die Schulden in notwendigem Ausmaß zu tilgen.

Corona-Krise treibt Staatsverschuldungen in die Höhe

Die Corona-Krise hat die Staatsverschuldungen auf neue Höchststände getrieben. Jens Weidmann, Präsident der Deutschen Bundesbank, und andere nordeuropäische Mitglieder des für die Geldpolitik zuständigen EZB-Rats fanden mit ihren Plädoyers für eine restriktive Geldpolitik zum Kampf gegen die Inflation keine Mehrheit im Rat.

Neben der EZB geben sich viele Ökonomen überzeugt, dass die Inflation schon im kommenden Jahr deutlich schwächer werde. Die Experten verweisen auf die temporäre Senkung der Mehrwertsteuer, die Anfang 2021 wieder auf alte Höhen angehoben wurde. Laut Sebastian Dullien, Chef des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), macht allein dieser Effekt knapp ein Prozent der gegenwärtigen Inflationsrate aus.  

Zudem haben die Verbraucher während des Lockdows kräftig gespart. Nach Schätzungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) stauen sich nach den Jahren 2020 und 2021 insgesamt 200 Milliarden Euro an Kaufkraft. Seit der Lockerung der Corona-Restriktionen geben Konsumenten wieder mehr Geld aus, was die Preise in die Höhe treibt.

Lohn-Preis-Spirale könnte rotieren

Doch viele Ökonomen sagen, dass Mehrwertsteuereffekte, Konsumlaune und Lieferengpässe bald wieder verschwinden und damit auch die Preissteigerungen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) gibt sich da vorsichtiger: „Das, was die Inflation derzeit treibt sind vorübergehende Effekte, die aber leider alle gleichzeitig zusammenkommen.“

 

Auch ihre Geldpolitik kann nie für alle Eurostaaten passen: EZB-Präsidentin Christine Lagarde.

Vor allem teils kräftig steigende Preise an Tankstellen und der Blick auf den bevorstehenden Winter wecken Unmut, zumal gerade die Energiepreise vor dem Hintergrund der Weltklimadebatten politischen Sprengstoff bergen.

Inflationsentscheidend werden auch die Lohnverhandlungen sein. Angesichts der höheren finanziellen Belastungen der Arbeitnehmer könnten die Gewerkschaften versuchen, deutlich höhere Löhne und Gehälter durchzusetzen.

In den Lohnverhandlungen im Baugewerbe wurden Ende Oktober bereits Lohnerhöhungen in drei Stufen von zusammen mehr als sechs Prozent und mehrere Sonderzahlungen vereinbart, allerdings mit langer Laufzeit.

Die Politik will den Mindestlohn deutlich auf zwölf Euro erhöhen. Befürchtungen wachsen, dass das die Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen könnte. Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass Inflationen hartäckig andauern, wenn sich die Spirale erst einmal dreht.

Gegen Stagflation hat die Geldpolitik keine Instrumente

Erschwerend kommt hinzu, dass sich die konjunkturelle Entwicklung deutlich verlangsamt, wie die monatlichen Umfragen des ifo-Instituts zeigen. Der ifo- Geschäftsklimaindex war im Oktober zum vierten Mal in Folge rückläufig.

Die befragten Unternehmen beurteilen vor allem ihre Zukunftserwartungen negativ. Auch das Exportbarometer zeigte Ende Oktober nach unten. Das DIW befürchtet, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zum Jahresende nur noch um 0,5 Prozent zulegt.

Zunehmende Inflation bei schwächelnder Konjunktur – das könnte hierzulande in eine Stagflation münden. Für eine Zentralbank ist das ein Horrorszenario, weil zur Bekämpfung einer Stagflation kein wirksames Instrumentarium zur Verfügung steht.

Doch die EZB betreibt Geldpolitik für den gesamten Euroraum und in anderen Euroländern sieht die wirtschaftliche Situation viel weniger dramatisch aus.

Zudem sind der EZB wegen der hohen Verschuldung südlicher Eurostaaten geldpolitisch die Hände gebunden. Die Hoffnung scheint eher zu sein, die hohe Verschuldung mithilfe der Inflation zu entwerten – ein sehr fragwürdiges Mittel, um ein Kernproblem zu lösen.

Dieter W. Heumann (Bild oben: Shutterstock)
– 10. November 2021