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Hat Führung Zukunft? / Teil V / Essay
Plädoyer für Vielfalt
Wie kann Führung so gelingen, dass Unternehmen, Organisationen und die darin lebenden und arbeitenden Menschen sich bestmöglich entfalten? Oder ist Führung in bestimmten Situationen sogar entbehrlich? Heute geht es um das Thema Vielfalt.

Wer heute über Diversität schreibt, muss mutig sein. So erhitzt ist die Diskussion darüber, was Gendergerechtigkeit bedeutet, wo Rassismus anfängt und wie ihm begegnet werden kann und muss, was Sprache, Film, Literatur, Politik in dieser Hinsicht richtig oder falsch machen oder gemacht haben, was sich ändern beziehungsweise geändert werden muss.

Der nachfolgende Artikel verwendet bewusst den Begriff „Vielfalt“ und richtet den Blick auf das, was wir in Unternehmen mit Vielfalt gewinnen können.

„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.“ Wer immer diese Metapher erfunden hat, sie oder er hat eine Erkenntnis formuliert, die wir alle kennen und bestätigen können.

Wobei auch Bilder Bezüge brauchen. Die beiden nachfolgenden abstrakten Bilder lassen sich auf Kunst beziehen (zum Beispiel auf Piet Mondrian), erhalten mit dem Begriff „Diversität“ aber sofort eine mögliche andere Bedeutung, lösen Diskussionen oder Fragen aus.

Diversität
Diese beiden abstrakten Bilder lassen sich auf Kunst beziehen. Mit dem Begriff „Diversität“ erhalten sie aber sofort eine mögliche andere Bedeutung, lösen Diskussionen oder Fragen aus.

„Eine Geschichte sagt mehr als tausend Argumente.“ Daher lassen Sie mich eine kurze Geschichte erzählen. Sie handelt von einem jungen Mann – nennen wir ihn Lars –, der eine Ausbildung zur Fachkraft Metalltechnik absolviert, von seinem Ausbildungsbetrieb, einem Zulieferer der Automobilindustrie, übernommen wird und unauffällig, sorgfältig und fleißig in einem Team männlicher Kollegen arbeitet.

Eines Tages meldet er sich zum Gespräch bei der Geschäftsführerin an, nach langem Zögern, wie er ihr erzählt, und trägt stockend, mit rotem Kopf, etwas vor, was für ihn ein Problem darstellt. Genau so formuliert er es: „Mein Problem ist, dass ich homosexuell bin.“

Er leidet darunter, vor allem unter dem ständigen Verheimlichen und dem Druck, es könnte herauskommen. Das ist für ihn der Kernpunkt: Was werden seine Kollegen sagen, wie werden sie mit ihm umgehen?

Die Geschichte ist wirklich kurz: Die Geschäftsführerin überzeugt Lars, mit ihr zusammen ein Gespräch mit allen Teammitgliedern zu führen. Die Reaktion seiner Kollegen ist eindeutig: „Ist doch gar kein Problem, du bist unser Kollege, hast dich super in unser Team eingefügt. Du passt zu uns.“ Ein älterer Arbeiter sagt: „Super, dass du das angesprochen hast. So etwas erfordert heute immer noch Mut.“

Offen wird das Thema Sanitäranlagen besprochen und gemeinsam gelöst. Das „Outing“, wie es gern dramatisierend genannt wird, war ein sehr persönliches, sehr empathisches Teamgespräch ohne irgendwelche Aufreger.

Als die Geschäftsführerin zusammen mit Lars den Besprechungsraum verlässt, sagt sie „Danke!“ zu Lars. Er schaut sie erstaunt an, dann versteht er und lächelt.

Eine Geschichte, die eines der vielen Themen rund um Vielfalt aufgreift. Eine erfundene Geschichte? Oder heute schon Alltag? Was meinen Sie? Wie ist beziehungsweise wäre es in Ihrem Unternehmen? Wie ist es um die Vielfalt bestellt?

Eine Welt ohne Vielfalt?

Eine einfache Frage führt mitten in das Thema hinein: Was wäre, wenn es weniger Vielfalt gäbe?

Keine Frage: Das Leben wäre langweiliger, gleichförmiger, weniger interessant und abwechslungsreich, es wäre ärmer. Aber wenn das so ist: Warum löst Vielfalt bei vielen Menschen negative Assoziationen aus, was hindert sie, die Vielfalt anzunehmen und sich darüber zu freuen, was macht ihnen schlechte Gefühle?

Vielfalt
Was wäre, wenn es weniger Vielfalt gäbe? Ohne sie wäre das Leben langweiliger, gleichförmiger, weniger interessant und abwechslungsreich.

In erster Linie ist es Angst. In homogenen Gruppen kennt man sich aus, kann sich gegenseitig einschätzen, kann sich sicher fühlen. Ohne Veränderung ist das Leben risikoärmer, es scheint einfacher zu sein.

Mit Vielfalt wird die Welt komplizierter, und nicht auf jeden und alles kann man sich einstellen und weiß, womit zu rechnen ist. Fremdes tritt, ob man will oder nicht, in das eigene Lebensumfeld. Menschen fühlen sich, ihren Arbeitsplatz, ihre Familie bedroht. Das führt zu Abneigung, Abwehr, Abgrenzung.

Vorurteile sollen also schützen. Ob die vermeintlichen Gefahren tatsächlich real sind, spielt zunächst einmal keine Rolle. Wenn aber im Umfeld etwas passiert, wird es in diese Sichtweise eingeordnet, und wenn es etwas Negatives ist, bestätigt es die Abwehrhaltung (während ein positives Erlebnis zur Ausnahme deklariert wird): Aus Vorurteilen werden Urteile, nur selten werden sie korrigiert.

Das alles sind bekannte Mechanismen, die mit dem Ur-Bedürfnis von Menschen nach Sicherheit und der daraus folgenden Skepsis gegenüber jeder Veränderung zu tun haben. Wenn Vielfalt auch nur den Anschein erweckt, Veränderungen zu postulieren oder auszulösen, wird sie als kritisch eingestuft und ruft entsprechende Reaktionen hervor.

Wenn das nicht der Fall ist, wenn die Vielfalt keine Wirkung zu entfalten scheint, kann man sich mit ihr leichter arrangieren. So gelingt es Menschen, in exotische Urlaubsländer zu reisen und sich dort wohlzufühlen, wenn alle relevanten Risikofaktoren unter Kontrolle oder ausgeschaltet sind. Zur Behaglichkeit trägt es dann bei, wenn vertraute Elemente – das heimische Bier, die anderen Reisenden, der definierte Rahmen einer Hotelanlage – dazukommen.

Menschen in Unternehmen verhalten sich grundsätzlich ebenso, wir alle tragen einerseits Sicherheitsbedürfnisse, andererseits aber auch Neugier in uns und versuchen permanent, beides in die Waage zu bringen.

Warum ist Vielfalt so wichtig?

Vor allem anderen: Weil jeder Mensch das Recht auf seine Individualität, seine Einzigartigkeit hat. Niemand hat das Recht, ihm diese streitig zu machen, sofern weder normative Regelungen noch die Rechte anderer unangemessen beeinträchtigt werden. Das mag im Einzelfall schwierig sein, aber hierum dreht sich vieles in der aktuellen Diskussion.

Vielfalt
Unser Anliegen muss es sein, immer mehr Menschen von der Bedeutung der Vielfalt zu überzeugen und dafür zu gewinnen, sich auch danach zu verhalten.

Doch muss es, so wichtig dies ist, nicht nur darum gehen, die Einhaltung des Rechts auf Individualität durchzusetzen. Vielmehr muss es unser Anliegen sein, immer mehr Menschen von der Bedeutung der Vielfalt zu überzeugen und dafür zu gewinnen, sich auch danach zu verhalten.

Den Weg weist ein Zitat des Nobelpreisträgers Konrad Lorenz, nachzulesen unter anderem bei www.zitate.de:

Gedacht heißt nicht immer gesagt,
Gesagt heißt nicht immer richtig gehört,
Gehört heißt nicht immer richtig verstanden,
Verstanden heißt nicht immer einverstanden,
Einverstanden heißt nicht immer angewendet,
Angewendet heißt noch lange nicht beibehalten.

Genau darum geht es: diese Dilemmata aufzulösen.

Warum ist Vielfalt so wichtig? Die Antwort liegt auf der Hand. Vielfalt schafft Kraft, Energie, sie gibt Impulse, ermöglicht Kreativität.

So bedeutend die Kunst der Renaissance war und heute noch ist: Würden wir uns heute damit zufriedengeben wollen, wäre es uns genug, wenn es nichts anderes gäbe?

Was für die Kultur gilt, gilt auch für das tägliche Leben, auch im Beruf. Wie selbstverständlich ist Vielfalt für uns bei der Ernährung, wie vielfältig, international, kreativ ist das Restaurantangebot, wie viele Impulse gewinnen wir daraus für unsere Ernährung, auch wenn wir selber kochen. Wie unterschiedlich sind die Möglichkeiten in unserer Welt, uns zu kleiden.

Die Schlussfolgerungen aus all diesen scheinbar einfachen Überlegungen gelten auch in Unternehmen. Sie brauchen Innovationen, Flexibilität, Kreativität in ihrer Strategie, in der Produktgestaltung, in Produktionsprozessen, in ihrem Marktauftritt. Es ist nur noch ein Schritt, um zu verstehen, dass kulturelle Vielfalt, Offenheit und Toleranz in Unternehmen unverzichtbar sind.

Sie sind es sowieso: Aus Gründen der Menschlichkeit und des berechtigten Anspruchs auf Gleichbehandlung. Es sind einklagbare Rechte, die beachtet und eingehalten werden müssen.

Aber sie sind unverzichtbar auch aus Gründen der Kraft, die daraus im Zusammenleben und in der Zusammenarbeit entsteht, und wegen der Bereicherung, die das Leben, auch das Arbeitsleben, dadurch erfährt, auch in der Teamarbeit, in der gemeinsamen Fokussierung auf Ziele und auf die vielfältigen Wege, wie sie erreicht werden können.

Man muss nur einmal damit beginnen, seine Einstellung, seine Haltung zu ändern, und diesen Weg durchzuhalten, bis die Veränderung der Haltung angewendet und beibehalten wird – so schwer das sein mag. Alles Weitere ergibt sich daraus.

Die Geschäftsführerin in der kleinen Geschichte hat das verstanden, sie bedankt sich für die Lernchance, die ihr Mitarbeiter Lars ihr und seinen Kollegen, aber auch sich selbst ermöglicht hat.

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Dieser Beitrag ist Teil einer Serie. Zuvor erschienen:

Teil I: Führung und Politik – eine Wertefrage

Teil II: Gestaltungsmut statt Angstkultur

Teil III: Die dunkle und die helle Seite der Macht

Teil IV: Die Zukunft der Arbeit ist jetzt

 

Autor

Gerhard Lippe war 32 Jahre für die Hamburger Sparkasse tätig. Seine Schwerpunkte waren neben den Fachaufgaben Personal- und vor allem Führungsarbeit. Derzeit ist er als Berater, Gutachter, Dozent und Schriftsteller tätig. Gerhard Lippe ist Botschafter der Stiftung Club of Hamburg, um ihr Managementmodell „Erfolg mit Anstand“ zu verbreiten und Unternehmen auf dem Weg in den „DEX Deutscher Ethik Index“ zu begleiten. Er ist Mitglied in der Vereinigung Eines Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg e.V. Sein Buch „Führung als Herausforderung“ ist 2015 im Springer Gabler Verlag erschienen.
 

Gerhard Lippe (Bild oben: Shutterstock)
– 20. August 2021