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Hat Führung Zukunft? /Teil IV / Essay
Die Zukunft der Arbeit ist jetzt
In dieser Artikelserie geht es um die Frage, was Führung ausmacht, was sie leisten kann und muss, was sie ermöglicht – und was verhindert. Diese Folge befasst sich mit den Veränderungen für Führung in der Arbeitswelt nach der Coronakrise.

Die Hoffnung ist zurück. Mit dem Abnehmen der Inzidenzzahlen breitet sich Zuversicht aus, so wie das Frühjahr die Hoffnung auf einen schönen Sommer weckt. Die dritte Welle der Pandemie scheint gebrochen, eine vierte ist nicht absehbar.

Die massive Kritik an der Impfstoffknappheit, der Impfkampagne, der zögerlichen Öffnung, dem Durcheinander der Regulierungen in den Bundesländern und Landkreisen ebbt im gleichen Maße ab, wie die Zahl der Geimpften zunimmt.

Die Menschen machen sich mit den wiedergewonnenen Freiheiten vertraut, machen Tagesausflüge, beginnen mit der Urlaubsplanung für den Sommer. Eine neue Fröhlichkeit macht sich breit: Was vor der Krise selbstverständlich war, wird neu geschätzt und genossen.

Zukunft der Arbeit

Optimisten sagen voraus, dass die Menschen rücksichtsvoller als vor der Krise miteinander umgehen werden, dass eine Rückbesinnung auf Werte, auf Familie und Freunde, auf Zeit mit- und füreinander stattfinden wird.

Pessimisten machen eine höhere Aggressivität aus, erwarten Isolation im Homeoffice, massive Schädigungen der psychischen Lage vieler Menschen und einen neuen Egoismus.

Wirtschaftler sagen Inflation, Börsenabsturz, Rezession, höhere Steuern voraus, aber auch neuen Mut zu Innovationen, zunehmende Digitalisierung, eine neue Globalisierungswelle und eine Einstellung à la „Alles ist möglich!“.

Zukunftsforscher befassen sich mit der Zukunft der Arbeit, der Bedeutung von Homeoffice, den Auswirkungen auf den Büromarkt, den Veränderungen der City von Großstädten, der zukünftigen Mobilität.

Darunter sind der „Trendscout Future of Work Life & Learn“ Raphael Gielgen des Möbelherstellers Vitra oder die Architektin und Stadtgestalterin Julia Erdmann, Gründerin von JES Socialtecture.

Gielgen benennt es mit der Überschrift zu einem Kommentar auf der Website der Design Offices GmbH im Februar 2021: „Die Zukunft der Arbeit ist jetzt.“ Entscheidend wird nicht sein, ob diese Prognosen sich vollständig oder zumindest teilweise bestätigen werden – vielmehr wird es für Unternehmen darauf ankommen, sich auf Veränderungen einzustellen, offen dafür zu sein und sie nicht über sich ergehen zu lassen, sondern mitzugestalten.

Fehlte in der Pandemie: der direkte Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen.

Die Frage, ob die Veränderungen für die Menschen in der Arbeitswelt eher vorteilhaft oder nachteilig sein werden, lässt sich nicht ohne Weiteres beantworten. Eine Reihe von Vorteilen ist augenfällig: Das Arbeiten im eigenen Wohnbereich bringt neue Freiheiten mit sich, wie sich schon bei vielen in ihrer Bekleidung zeigt.

Zeitersparnis durch Wegfall der Wege zum und vom Büroarbeitsplatz, Präsenz für Kinder, Anwesenheit bei Lieferungen können weitere Vorteile sein. Aber die Pandemie hat auch die möglichen Grenzen aufgezeigt, zum Beispiel das Fehlen eines angemessen ausgestatteten Arbeitsplatzes beziehungsweise Arbeitszimmers, Ablenkungen durch Privates und vor allem: fehlender oder schwieriger darzustellender Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen.

Die neue Welt der Führung

Aber was bedeutet das alles für die Führung von und in Unternehmen? Können wir einfach so weitermachen wie bisher – oder was müssen wir ändern?

Einige Eckpunkte sind heute bereits klar: Homeoffice wird nachhaltig. Es wird eine deutlich größere Bedeutung einnehmen als vor der Krise.

Führungskräfte müssen sich verstärkt darauf einstellen, auf Distanz zu führen. Und sie müssen sich Mechanismen der Team- und der Führungskommunikation einfallen lassen, die der veränderten Situation gerecht werden. Da nicht anzunehmen ist, dass Präsenzarbeit in Büros vollständig von Distanzarbeit im Homeoffice abgelöst wird, wird es neuer Konzepte für gemeinsame Anwesenheitszeiten im Büro bedürfen.

Teamarbeit verändert sich, wenn Teams in größerem Umfang virtuell arbeiten. An Präsenztagen werden Workshops, Teammeetings und gezielter bilateraler Austausch wichtiger als das bisherige gemeinsame Sitzen in Einzel-, Zweier-, Gruppen- und Open-Space-Räumen.

Agile Arbeitsmethoden wie Design Thinking oder Scrum steigen in ihrer Bedeutung. Julia Erdmann, die Architektin und Vordenkerin von JES, sagt auf der Website der Gerberit Vertriebs GmbH: „Wir brauchen ein neues Denken.“

Aber die Veränderung geht tiefer. Sie berührt das klassische Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer zueinander. Wie wird die Erbringung der erwarteten Arbeitsleistung sichergestellt? Wird die Qualität der Arbeit durch den Isolationscharakter des häuslichen Arbeitens beeinflusst? Wer ist für den Arbeitsplatz zu Hause verantwortlich, die Mitarbeitenden oder das Unternehmen, was ist zum Beispiel mit der Gefährdungsanalyse für den Arbeitsplatz – kann diese an die Mitarbeiter delegiert werden? Wie funktionieren Instrumente des betrieblichen Gesundheitsmanagements, wenn Mitarbeiter tagelang im Home-Office sind?

Und was ändert sich am Umgang der Menschen im Unternehmen miteinander, zwischen Mitgliedern eines Teams, im Verhältnis von Führungskraft und Mitarbeiter? Was bedeutet das für Vertrauen, Verantwortung, Wertschätzung, Empathie, Menschlichkeit?

Mitarbeitende gewinnen und erhalten sich Vertrauen zu ihren Führungskräften nur, wenn Nähe da ist.

Worauf es jetzt ankommt

Homeoffice funktioniert nicht ohne Vertrauen. Aber das gilt auch für Büroarbeit, nur hat das noch nicht jede Führungskraft verinnerlicht.

Vertrauen statt Kontrolle wird für diese Führungskräfte schwer, führt aber hoffentlich zum längst überfälligen Umdenken. Notwendige Kontrollfunktionen wie das Vier-Augen-Prinzip lassen sich auch virtuell abbilden. Sicherheitsmechanismen wie der Schutz bei der Übertragung von Daten lassen sich gestalten, die Vermeidung der Einsehbarkeit durch Nichtberechtigte ist aber gerade auch im Homeoffice vor allem Vertrauenssache.

Mitarbeitende gewinnen und erhalten sich Vertrauen zu ihren Führungskräften nur, wenn Nähe da ist, wenn Einfühlungsvermögen vorhanden ist und gezeigt wird, wenn diese sich für sie interessieren und sich selbst für persönliche Begegnung öffnen. Virtuell geht das nur bedingt, aber es geht, wenn es die Alternative der Präsenz nicht gibt. Gibt es diese, müssen der persönliche und der fachliche Austausch als gleichwertig gesehen und verstanden werden.

Wertschätzung ist für jeden Menschen ein unbedingt notwendiges Lebenselixier. Eine Führungskraft, die diese ihren Mitarbeitern verweigert, handelt so, als würde sie ihnen die Luft zum Atmen nehmen. Wie oft wird dies unterschätzt oder aber falsch gemacht, durch erfundenes, unbegründetes Lob, das womöglich zum falschen Zeitpunkt (vor allem zu spät) kommt.

Auch Kritik bedeutet letztlich Anerkennung, sie ist, richtig geäußert, eine Form des Respekts, der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung eines anderen Menschen, und sie bedeutet Übernahme von Verantwortung.

Wertschätzung ist für jeden Menschen ein unbedingt notwendiges Lebenselixier. Eine Führungskraft, die diese ihren Mitarbeitern verweigert, handelt so, als würde sie ihnen die Luft zum Atmen nehmen.

Empathie lässt sich noch weniger „verordnen“ als die vorangegangenen Werte – sie muss Teil der Persönlichkeit des Menschen sein, der eine Führungsaufgabe hat (und oft zugleich Mitarbeiter einer „höheren“ Führungskraft ist, also wissen sollte, wie es sich anfühlt, Empathie zu erleben – oder nicht). Hier scheitert die „gelernte“ Führungskraft, hier helfen Bücher nicht weiter.

Das gilt auch für Menschlichkeit. Wann, wenn nicht jetzt, können wir beweisen, auch als Führungskräfte, welcher Mensch in uns wirklich steckt? Wann sonst können wir unsere Menschlichkeit besser zeigen, um für „unsere“ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter da zu sein, ihnen zuzuhören, was sie während der Pandemie erlebt haben, ihre Hoffnungen und Sorgen mit ihnen zu teilen?

Ist das noch eine Aufgabe von Führung? Ja! Das ist Leadership, nicht nur Management. Das richtige Maß zu finden ist nicht leicht, aber seinen Mitarbeitern die Zuwendung zu verweigern ist in jedem Fall falsch.

Chancen für die Zukunft

Jeder weiß es, es klingt banal, weil schon oft gehört: In der Veränderung liegen die wirklichen Chancen für die Zukunft.

Das heißt jetzt: Raus aus der Komfortzone, wahrnehmen, was ist und was geht, sich mit Gleichgesinnten austauschen, sich gemeinsam mit den Mitarbeitern auf den Weg machen. Nehmen Sie das Heft in die Hand und gestalten Sie die Zukunft! Ihre Mitarbeiter werden es Ihnen danken und Sie unterstützen.

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Autor

Gerhard Lippe war 32 Jahre für die Hamburger Sparkasse tätig. Seine Schwerpunkte waren neben den Fachaufgaben Personal- und vor allem Führungsarbeit. Derzeit ist er als Berater, Gutachter, Dozent und Schriftsteller tätig. Gerhard Lippe ist Botschafter der Stiftung Club of Hamburg, um ihr Managementmodell „Erfolg mit Anstand“ zu verbreiten und Unternehmen auf dem Weg in den „DEX Deutscher Ethik Index“ zu begleiten. Er ist Mitglied in der Vereinigung Eines Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg e.V. Sein neuestes Buch, „Führung als Herausforderung“, ist im Springer Gabler Verlag erschienen.

 

Gerhard Lippe
– 4. Juni 2021