Zurück
Hat Führung Zukunft? /Teil I/ Essay
Führung und Politik – eine Wertefrage
Wie gelingt Führung so, dass Unternehmen, Organisationen und die darin tätigen Menschen sich bestmöglich entfalten können? Ein Blick auf die politische Führungspraxis zeigt: Es kommt auf Führungspersönlichkeiten und deren Wertvorstellungen an.

Wenn über Führung gesprochen wird, denken viele zunächst an Unternehmensführung, an Vorstände und Geschäftsführer, Abteilungs- und Teamleiter. Tatsächlich befassen wir uns aber jeden Tag auch damit, was politische Führungskräfte getan, gesagt und unterlassen haben, oder was sie hätten tun sollen.

Das Sprechen und Handeln von von Politikerinnen und Politikern, von Menschen mit politischen Ämtern und Funktionsträgern – ob sie nun Merkel, Macron, Johnson, Biden, Trump, Putin oder Xi heißen – bewegt uns, und die Globalisierung ist auch in dieser Hinsicht bei politisch interessierten Menschen vollumfänglich angekommen. Politik reicht genauso erkennbar über Landesgrenzen hinaus wie der Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr.

Aussagekräftiges Bild zum Amtsbeginn: US-Präsident Joe Biden (rechts) lauscht während der Zeremonie einer Gedichtrezitation der Lyrikerin Amanda Gorman (links).

Wie sprechen wir über politische Führung? Sehr oft wie über Fußball. Der Trainer einer Nationalmannschaft scheint stets Millionen von Kolleginnen und Kollegen im eigenen Land zu haben, die es besser wissen als er.

Auch wenn Kritik oft dominiert, werden Führungsleistungen auch durchaus anerkannt, zumindest bei Erfolg. Es wird zwar geschimpft und gelästert, es wird aber auch respektiert und verteidigt. Uns allen ist das Handeln von Politikern insofern wichtig, als es für unser Leben von Bedeutung ist und weil wir letztlich von ihren Entscheidungen, ihrem Handeln und Unterlassen abhängen.

Die Tagesschau ist regelmäßiger Quotensieger. Auch in Zeitungen lesen wir aus gutem Grund nicht nur den Sportteil oder das Feuilleton. Wir verfolgen auch grundsätzliche politische Diskussionen, weil an ihrem Ende beispielsweise Gesetze und Verordnungen stehen, die bis in unseren Alltag hineinwirken – ob wir das wollen oder nicht.

Medien prägen das Bild von Politikern

Dabei haben wir Präferenzen, nicht nur für bestimmte Personen, sondern auch für politische Richtungen und Parteien. Alle Nachrichten, Informationen, Kommentare, Erklärungen, Meinungsäußerungen oder Handlungsanweisungen, die wir wahrnehmen, durchlaufen immer unseren eigenen persönlichen Filter.

Wenn wir Politiker beobachten, sie agieren sehen und hören, Texte von ihnen oder über sie lesen, prägt das unser Bild von ihnen. Wir haben einen subjektiven Eindruck von den Eigenschaften eines Menschen, weil wir seine Einstellungen, Überzeugungen und sein Verhalten direkt erleben oder über Medien wahrnehmen. Daraus folgern wir auf Einstellungen und Überzeugungen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel mit NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (links). Aus medial vermittelten Bildern von politischem Führungspersonal schließen wir auf persönliche Eigenschaften.

Bei unseren Führungskräften im engeren Sinne, also bei Personen, die wir in ihrer Rolle als Führungskraft erleben und deren Verhalten und Entscheidungen direkt auf uns wirken, entsteht ein ziemlich klares, wenn auch subjektives Bild ihrer Persönlichkeit.

Bei politisch Tätigen ist es in aller Regel schwieriger, ein klares Bild zu bekommen, weil es meist medial-indirekt vermittelt ist. Die Auseinandersetzung damit lohnt aber. Politiker taugen ebenso wie Führungskräfte in Unternehmen und anderen Organisationen als Vorbilder und Beispiele – im Guten wie im Schlechten.

Führung in der Politik ist abhängig von Funktionen, Rollen und Aufgaben der Verantwortlichen, also unter Umständen eine komplexe Angelegenheit. In aller Regel sind Politiker keine für sich allein stehenden Amts- oder Funktionsträger. Sie gehören fast immer Parteien an, denen sie verbunden und verpflichtet sind, auch wenn sie nur ihrem Gewissen verantwortlich sind, beispielsweise als Abgeordnete.

Welche Führungsaufgaben haben politische Amtsträger?

Als Mitglieder und Funktionsträger in einer Partei sind Politiker den Parteizielen und -programmen verpflichtet. Wenn eine Partei einer Koalition angehört, regelt beispielsweise ein Koalitionsvertrag das beiderseitige Verständnis für die Legislaturperiode und die gemeinsamen Ziele und Themen.

Bei den Mitgliedern eines Gemeinderats, einer Landes- oder der Bundesregierung ist anzunehmen, dass auf diesen Grundlagen ein gemeinsames Gremienverständnis herrscht oder herbeizuführen versucht wird. Politiker müssen auch diesen Rahmen einhalten, vom sogenannten Protokoll, Ausführungsbestimmungen, geschriebenen und ungeschriebenen Regeln ganz zu schweigen .

Welche Führungsaufgaben haben politisch Tätige? Diese Aufgaben hängen wie in der Wirtschaft und anderswo davon ab, ob jemand zu führen ist. Abgeordnete und Minister beispielsweise haben in der Regel zuarbeitendes Personal.

US-Präsident Joe Biden während seiner Rede zu Amtsbeginn. Der Charakter von Führungspersönlichkeiten erschließt sich aus ihrem Verhalten, ihren Äußerungen, ihrem Tun und Lassen.

Politik- und Wirtschaftshierarchien funktionieren nach ähnlichen Grundsätzen

Insbesondere Ministerien sind Suborganisationen von teilweise hoher Komplexität, einer entsprechenden Aufbauorganisation und Führungsverantwortung. An der Schnittstelle zwischen Ministeramt und Ministeriumsorganisation stehen beispielsweise Staatssekretäre, die ein Minister führen muss.

Diese Überlegungen lassen sich, mit einigen Ausnahmen, auch auf Unternehmen übertragen. Augenfällig ist der strikt hierarchische Organisationsaufbau, der letztlich in einer Person gipfelt.

Wen führt beispielsweise Bundeskanzlerin Angela Merkel? Die meisten würden wahrscheinlich sagen, sie führt die deutsche Bevölkerung. Aber tut sie das? Manche würden ergänzen: Sie führt die Bundesregierung. Doch ist das wirklich ihre Aufgabe?

Dafür spricht, dass sie zur Personalauswahl berechtigt ist, denn ihr steht das alleinige Recht zur Kabinettsbildung zu, einschließlich der Festlegung der Geschäftsbereiche1 . Nach dem sogenannten Kanzlerprinzip bestimmt die Bundeskanzlerin die Eckpfeiler der Regierungspolitik.2

Aber unabhängig davon gilt für die Minister das sogenannte Ressortprinzip, das heißt sie leiten „innerhalb des festgelegten politischen Rahmens ihren Geschäftsbereich selbstständig und eigenverantwortlich“.3 Auch diese Prinzipien sollten sich entsprechend auf Unternehmen übertragen lassen.

Was zählt, sind die Persönlichkeit einer Führungskraft und unser Bild von ihr

Belassen wir es bei diesen funktionalen Vergleichen. Denn ein anderes Element kommt noch hinzu, sowohl auf der politischen als auch auf der unternehmerischen Ebene: die jeweilige Persönlichkeit.

Von den in der Öffentlichkeit stehenden politischen Funktionsträgern hat jeder Bilder vor Augen, nicht anders ist das bei Staatslenkern anderer Länder und bei Führungskräften nationaler und internationaler Organisationen. Wir erleben all diese Führungspersönlichkeiten als Menschen mit einem bestimmten Charakter, der an ihrem Verhalten, ihren Äußerungen, ihrem Tun und Lassen erkennbar wird.

Es gibt in dieser Gruppe, neutral formuliert, viele bemerkenswerte und auffällige Persönlichkeiten, die in all ihrer Heterogenität ihr Amt und die Art der Menschenführung prägen, seien es Erwerbstätige oder Bürgerinnen und Bürger.

Über Werte und Wertebewusstsein gibt es einen Grundkonsens

Was aber macht Führung aus? Im Wesentlichen sind es die Werte, nach denen politisch oder unternehmerisch tätige Funktionsträger handeln. Darüber, welche Werte dies sind oder sein sollten, gibt es in unserer Gesellschaft einen gewissen Grundkonsens.

Die sechs Werte, die jedes Jahr von der Wertekommission zum Gegenstand der Priorisierung durch zuletzt 520 Führungskräfte gemacht werden4 , lauten Vertrauen, Verantwortung, Respekt, Integrität, Nachhaltigkeit, Mut5 . Sie gehören sicher zum akzeptierten Wertekanon.

Doch viele würden wahrscheinlich eine Vielzahl weiterer Werte nennen: Würde, Vernunft, Menschlichkeit, Empathie, Wertschätzung, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Gerechtigkeit, Glaubwürdigkeit, Toleranz, Wahrnehmungsfähigkeit, Sensibilität, Lern- und Erkenntnisbereitschaft, Selbstreflexion, Achtsamkeit, Beständigkeit, Anpassungsfähigkeit, Teamfähigkeit, aber auch Pflichtbewusstsein, Souveränität, Intelligenz, Erfahrung, Durchsetzungsstärke, Konfliktfähigkeit und noch weitere.

Pro-Trump-Riot in Washington. Die Persönlichkeit von Führungskräften ist von großer Bedeutung für die Kultur einer Organisation, sei es in der Politik, sei es in der Wirtschaft.

Wenn man diesen Katalog auf nationale und internationale Amtsträger anwendet, entsteht ein buntes Bild mit erkennbaren und nicht unbedeutenden Gemeinsamkeiten und Unterschieden.

Diese Unterschiede reflektieren die jeweilige Persönlichkeit und sagen zugleich etwas darüber aus, ob und inwieweit sie ihr Amt prägt oder von ihrem Amt geprägt wird. Sie zeigen auch, dass der Rahmen nicht alles ist und nicht von jedem Funktionsträger gleichermaßen beachtet wird.

Vor allem aber machen sie deutlich, dass die Persönlichkeit von Führungskräften für die Amts-, Unternehmens-, Ressort- und Mitarbeiterführung von großer Bedeutung ist.

Die Kultur eines Unternehmens, die Unternehmens- oder Organisationsverfassung, der politische Rahmen  und besonders die Werte einer Organisation setzen einer Führungspersönlichkeit gewisse Entfaltungsgrenzen. Inwieweit diese Grenzen gelten, entscheidet die Führungskraft aber letztlich selbst. Außerdem entscheiden verschiedene Gremien und letztlich eine demokratisch verfasste Gesellschaft darüber.

Fünf Thesen zu Führung in Politik und Wirtschaft

Was bringt nun der Vergleich zwischen Führung und Führungskräften in Politik und Wirtschaft? Dazu folgende Thesen:

  1. Jeder Mensch hat eine eigene, unverwechselbare Persönlichkeit, die er als Führungskraft in eine bestimmte Funktion und den dafür gesetzten Rahmen einbringt.
     
  2. Jede Führungskraft hat individuelle Werte und Prägungen, die auf die Werte einer Organisation treffen und mit diesen entweder übereinstimmen oder nicht.
     
  3. Die Persönlichkeit der Führungskraft entscheidet über den Umgang mit eventuellen Wertekollisionen und daraus entstehenden Dilemmata.
     
  4. Unterschiedlichdlichkeit ist immer eine Chance für Entwicklung und Gestaltung. Heterogenität wirkt konstruktiv, wenn ein Grundkonsens über bestimmte Werte besteht. Ohne diesen Grundkonsens wirken unterschiedliche Wertvorstellungen tendenziell destruktiv und können für eine Organisation gefährlich werden, abhängig von der hierarchischen Stellung einer Führungspersönlichkeit. Dafür gibt es Beispiele aus der Politik, aber auch aus Unternehmen.
     
  5. Eine Entscheidung über die Besetzung einer Führungsposition, die nur nach den sachlichen Kriterien Fachkompetenz und Erfahrung erfolgt und nicht auch nach bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen, ist riskant und aus meiner Sicht nicht zu verantworten. Wichtig ist jedoch auch, die Werte der Organisation kritisch zu hinterfragen.

Fazit: Menschen machen Führungskultur

Es ist normal und menschlich, auf Dritte und ihr Verhalten zu schauen, wenn es um den Charakter, die Eigenschaften und Eigenarten der Persönlichkeit von Menschen geht.

Politische Funktionsträger sind dafür besonders geeignet. Führungskräfte des eigenen Unternehmens sind einem selbst näher, und die werteorientierte Betrachtung erfolgt zurückhaltender, denn sie kann ja Konsequenzen haben: zum Beispiel die Erkenntnis, dass ich mich in meinem Job nicht wohlfühle.

Dabei wissen wir im Inneren in der Regel sehr wohl, woran wir sind. Ob wir uns wohlfühlen oder nicht, hängt damit zusammen. Besser, wir gehen bewusst damit um.

Kultur wird von Menschen gemacht. Wie sie gelebt wird oder nicht, entscheiden die in einer Kultur lebenden Menschen mit ihrer Persönlichkeit. Je mehr die Kultur einer Organisation und die Werte einer Person übereinstimmen, desto mehr kann sie Wirklichkeit werden.

Unter dem Titel „Hat Führung Zukunft?“ veröffentlicht der Autor eine Artikelserie. In ihrem Kern geht es um die Frage, was Führung ausmacht, was sie leisten kann und muss, was sie ermöglicht und was sie verhindert.

Der Autor Gerhard Lippe war 32 Jahre für die Hamburger Sparkasse tätig. Seine Schwerpunkte waren neben den Fachaufgaben Personal- und vor allem Führungsarbeit. Derzeit ist er als Berater, Gutachter, Dozent und Schriftsteller tätig.

Gerhard Lippe ist Botschafter der Stiftung Club of Hamburg, um ihr Managementmodell „Erfolg mit Anstand“ zu verbreiten und Unternehmen auf dem Weg in den Deutschen Ethik Index (DEX) zu begleiten.

Er ist Mitglied in der Vereinigung Eines Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg. Sein Buch „Führung als Herausforderung“ ist 2015 im Springer Gabler Verlag erschienen.

  • 1Die Bundesregierung. Aufbau und Aufgaben, 3. Die Rolle der Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers. Berlin: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Zugegriffen am 30.12.2020: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/aufbau-und-aufgaben-390552
  • 2A.a.O.
  • 3A.a.O.
  • 4Wertekommission – Initiative Werte Bewusste Führung e.V., Bonn
  • 5In der Reihenfolge der Bewertung, beginnend mit der höchsten Priorität. Führungskräftebefragung 2020. Bonn: Wertekommission – Initiative Werte Bewusste Führung e.V. (2020), S. 13. Zugegriffen am 02.01.2021: https://www.wertekommission.de/fuehrungskraeftebefragung/
Gerhard Lippe
– 25. Januar 2021