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Prozesse
„KI verschafft uns einen Wettbewerbsvorteil“
Bei der Integration von Anwendungen aus dem Bereich Künstliche Intelligenz (KI) in produktive Geschäftsprozesse nimmt die Sparkassenversicherung (SV) unter den öffentlichen Versicherern eine Vorreiterrolle ein.

Im Interview erklären Pirmin Dangelmaier, Abteilungsdirektor Unternehmenssteuerung und Prozesse, und Fabian Harms, Abteilungsleiter Data Analytics (Big Data Lab), anhand von Praxisbeispielen, worauf in der Entwicklung von KI-Anwendungen zu achten ist.

Die SparkassenVersicherung (SV) hat ein KI-Modell zur Ermittlung der individuellen Risiken von Kunden bei Lebens- und Berufsunfähigkeitsversicherungen entwickelt:  Der Use Case „Biometrie“ ermöglicht bei einfachen Fällen die automatische Policierung. Seit September 2020 steht die KI-Anwendung im Regelbetrieb. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz nach knapp einem Jahr aus?
Fabian Harms: Wir sind sehr zufrieden. Bisher gab es keine kritischen Vorfälle oder Überraschungen. Die KI-Anwendung „Biometrie“ funktioniert im Geschäftsprozess zuverlässig.

Wie funktioniert diese KI-Anwendung genau?
Fabian Harms: Anhand der Gesundheitsangaben erkennt das KI-Modell automatisch, ob der Antrag als „kritisch“ oder „unkritisch“ bewertet werden muss. Irrelevante Vorerkrankungen wie zum Beispiel Heuschnupfen werden automatisch erkannt. Dazu war das Modell mit tausenden Fallbeispielen aus der Vergangenheit trainiert worden und hat so gelernt, die statistischen Zusammenhänge zu erkennen.

Pirmin Dangelmaier: Eine auf KI basierte maschinelle Bearbeitung von Anträgen hat den Vorteil, dass sie den manuellen Arbeitsaufwand reduziert. Der Antragsprozess kann schneller und somit kundenfreundlicher abgewickelt werden. Für die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter fallen repetitive und eher langweilige Tätigkeiten weg. Somit bleibt ihnen mehr Zeit, sich mit den interessanten und komplexeren Fällen zu befassen.

 


Künstliche Intelligenz kann den Sachbearbeitern repetitive und langweilige Tätigkeiten abnehmen. Somit bleibt ihnen mehr Zeit, sich mit den interessanten und komplexeren Fällen zu befassen.“

Pirmin Dangelmaier


Können Sie die Vorteile einer auf KI basierenden Policierung gegenüber einer herkömmlichen, regelbasierten Dunkelverarbeitung näher erläutern?
Fabian Harms: Bislang konnten Anträge nur dann dunkel, also maschinell, bearbeitet und policiert werden, wenn alle Rahmenparameter, wie zum Beispiel der Body-Mass-Index (BMI), unkritisch waren sowie alle Fragen zu bestehenden Erkrankungen mit „Nein“ beantwortet wurden.

Für die übrigen Anträge, insbesondere jene, bei denen mindestens eine Gesundheitsfrage mit „Ja“ beantwortet wurde – Beispiel Heuschnupfen – reichen einfache Regeln nicht mehr aus, um diese Unterscheidung treffen zu können. Herkömmliche Regelwerke werden hier schnell zu komplex und unübersichtlich. Deshalb haben wir uns für den Einsatz einer KI entschieden. Damit sind wir unserem Ziel, zwei Drittel aller Anträge dunkel zu verarbeiten, schon sehr nahe gekommen. Mit weiteren Verbesserungen des Modells werden wir dieses Ziel in naher Zukunft erreichen können.

Wenn ein Unternehmen eigenständig KI-Anwendungen entwickeln und in seine Produktionsprozesse integrieren will, braucht es angesichts der Komplexität der Materie Spezialisten und eine leistungsfähige IT-Infrastruktur. Rechnet sich der hohe Aufwand?
Fabian Harms: Betrachtet man den Use Case „Biometrie“ isoliert, wäre der Aufwand im Verhältnis zum tatsächlichen Effizienzgewinn tatsächlich unverhältnismäßig groß gewesen. Für die Umsetzung eines einzelnen KI-Modells lohnt sich der Aufbau eines Big Data Lab und einer eigenen Abteilung mit mehreren Spezialisten im Bereich der Datenaufbereitung und Datenanalyse sicher nicht.

Unsere Betrachtungsweise ist eine andere: Wir haben uns zum Ziel gesetzt, neue Ideen für erfolgversprechende KI-Anwendungen, sogenannte Use Cases, ausfindig zu machen. Im  Big Data Lab bauen wir dann die Prototypen, bringen diese zur Produktionsreife und binden sie in die bestehenden Geschäfts- und Produktionsprozesse ein.

Pirmin Dangelmaier: Dabei nutzen wir ein Plattformmodell, das es uns erlaubt, das Rad nicht jedes Mal neu erfinden zu müssen. Die Kosten für den Aufbau dieser Plattform betrachten wir als Investition in die Zukunft. Damit haben wir die Grundlagen geschaffen, um weitere Anwendungsfälle zu entwickeln und in den Geschäftsprozess zu integrieren.

Durch die Skalierbarkeit werden wir die Kosten für weitere Anwendungen sehr tief halten können. Der Use Case „Biometrie“ ist lediglich der Anfang. Im Laufe des letzten Jahres wurden bereits weitere Anwendungsfälle produktiv genommen oder werden demnächst in den Regelbetrieb überführt.

Die SV ist bereits seit mehreren Jahren im Bereich Big Data aktiv. Der Erfolg gibt uns recht. Bei der Integration von Big-Data-Analytics-Anwendungen in produktive Geschäftsprozesse nimmt die SV unter den öffentlichen Versicherern mittlerweile eine Vorreiterrolle ein. Den Start machte die Gründung des hausinternen Big Data Labs im Jahr 2017.

Wo lagen die technischen Herausforderungen bei der Entwicklung und Einbindung des Use Cases „Biometrie“ in den Geschäftsprozess?
Pirmin Dangelmaier: Am Ende waren es nicht so sehr die technischen Herausforderungen, die es zu meistern galt, als vielmehr ein Umdenken in den Prozessen und Verantwortlichkeiten innerhalb des Konzerns. In der Zusammenarbeit zwischen Fachbereich und IT mussten deshalb neue Wege beschritten werden.

Das war für alle Beteiligten eine Herausforderung. Künstliche Intelligenz erfordert eine flexible, dynamische Big-Data-Infrastruktur mit vielen Open-Source-Tools. Als es darum ging, das KI-Modell in eine Versicherungslandschaft einzubetten, fühlte sich die IT anfänglich unwohl. Es gibt ja strenge regulatorische Vorschriften bezüglich Datensicherheit und betrieblicher Stabilität. Gegenüber der Bafin müssen wir jederzeit in der Lage sein, jeden Schritt und jede Entscheidung des Systems nachvollziehbar offenzulegen.

Ist die Einhaltung der regulatorischen Vorschriften im Vergleich zu herkömmlichen, regelbasierten Systemen ungleich komplizierter und aufwendiger, weil das System dauernd lernt und somit seine Funktionsweise verändert?
Pirmin Dangelmaier: Komplizierter oder aufwendiger würde ich nicht sagen, sondern anders. Das hier eingesetzte Modell lernt nicht automatisch neue Dinge hinzu. Einer Änderung des Modells geht immer ein Training voraus mit abschließender Abnahme durch den Fachbereich.

Robotergestützte Prozessautomatisierung im Geschäftsbetrieb steigert die Produktivität. Wie profitiert die Kundin davon?
Fabian Harms: Die Prüfung von gesundheitsrelevanten Merkmalen und Risiken der Antragsteller ist meist aufwendig und dauert üblicherweise auch lange. Bei eindeutigen, unkritischen Anträgen, also wenn keine Risikofaktoren gegen eine Policierung sprechen, hilft KI den Antragsprozess enorm zu beschleunigen, weil die Verarbeitung vollständig automatisiert abläuft. Der Kunde muss nicht mehr wochenlang auf den Bescheid warten. Im Idealfall hat er die Police schon am darauffolgenden Werktag im Briefkasten. Big Data und künstliche Intelligenz verschaffen uns hier eindeutig einen Wettbewerbsvorteil.

Lässt sich das von der SV entwickelte Plattformmodell für KI-Anwendungen auf andere Verbundpartner übertragen?
Fabian Harms: Ohne in die anderen Häuser reinschauen zu können, würde ich sagen: ja. Das von uns entwickelte Plattformmodell lässt sich so oder so ähnlich auch in anderen Häusern umsetzen.

Worauf sollte man bei der Projektorganisation für die Entwicklung von KI-Modellen achten?
Fabian Harms: Aufgrund der gemachten Erfahrungen empfehle ich, die prototypische Entwicklung für die Use Cases beim Fachbereich anzusiedeln anstatt, wie es in der Software-Entwicklung üblich ist, bei der IT. Das hat sich in der Praxis bewährt. Ideen können so in enger Zusammenarbeit mit den Fachbereichen umgesetzt und gleichzeitig unabhängig vom gängigen Release-Prozess im Unternehmen entwickelt werden. Mit Release meine ich die Planung und Einführung einer neuen Software oder Software-Version. Innerhalb des Sparkassenverbundes ist eine solche Arbeitsorganisation ein Novum.

 


„Für die Entwicklung der Use Cases braucht es ein interdisziplinäres Team aus Datenwissenschaftlern, Software-Architekten der IT und den Experten aus dem Fachbereich.“

Fabian Harms


Fast noch wichtiger ist die fachübergreifende Zusammenarbeit im Alltag. Es braucht ein interdisziplinäres Team, bestehend aus Datenwissenschaftlern, Software-Architekten der IT und den Experten aus dem Fachbereich. Für den Erfolg der Use Cases ist die enge Einbindung der Fachbereiche entscheidend, weil die Programmierer auf das fachliche Know-how der Experten angewiesen sind.

Pirmin Dangelmaier: Es ist ratsam, Use-Case-orientiert vorzugehen. Das bedeutet zuerst genau zu definieren, für welche Prozesse man KI einsetzen will, und erst danach mit dem Aufbau einer großen Datenbank zu beginnen, denn letzteres ist mit einem großen Aufwand verbunden. Im vorliegenden Anwendungsfall „Biometrie“ hatte der Fachbereich das Ziel definiert, dass die Kunden, die bei uns eine Lebensversicherung beantragen und ein geringes gesundheitliches Risiko aufweisen, möglichst rasch die Police bekommen sollten.

KI weckt nicht nur Hoffnungen, sondern auch Ängste. Durch die Automatisierung könnten Arbeitsplätze verlorengehen. Teilen Sie solche Bedenken?
Pirmin Dangelmaier: Big Data und Automatisierung schaffen Einsparungspotenzial bei den Personalkosten. Auch die SV hat dadurch einige Stellen einsparen können. Die freigewordenen finanziellen Mittel werden aber anderswo eingesetzt, zum Beispiel für eine bessere Kundenbetreuung. In den nächsten Jahren rechne ich deshalb nicht mit einem einschneidenden Personalabbau.

Wie können Sie garantieren, dass die Daten der Kunden sicher sind und nicht zweckentfremdet werden?
Pirmin Dangelmaier: Die Kundendaten verlassen unser Haus nicht. Wir nutzen keine Cloud-Lösung. Die Big-Data-Maschinen stehen bei uns im Rechenzentrum der SV.

Im Zusammenhang mit KI ist oft von Diskriminierung die Rede. Wie stellen Sie sicher, dass die Maschine keine diskriminierenden Entscheidungen fällt, etwa bezüglich Alter, Nationalität oder Geschlecht?
Pirmin Dangelmaier: Die KI wird eine abschließende Entscheidung nur dann treffen, wenn diese zugunsten des Kunden ausfällt, also nur in den Fällen, wo der Antrag vorbehaltlos angenommen werden kann. Bei kritischen oder uneindeutigen Fällen wird immer die Fachabteilung abschließend darüber entscheiden und nicht die Maschine.

Fabian Harms: Es werden nur Daten verarbeitet, die auch bei einer herkömmlichen manuellen Risikoprüfung herangezogen und vom Kunden im Zuge des Antragsprozesses angegeben werden. Die Kundendaten werden nicht mit anderen internen Daten oder mit Daten aus externen Quellen wie Google oder sozialen Medien verknüpft.

Welche weiteren KI-Anwendungsfälle befinden sich in der Umsetzung und gehen demnächst produktiv?
Fabian Harms: Im vergangenen halben Jahr haben wir zum Beispiel eine Anwendung zur Schadenselbstregulierung produktiv genommen. Im Schadenfall erfasst der Kunde über eine Online-Maske Angaben zum Schaden. Die KI ermittelt dazu auf Basis historischer Daten und einer Online-Preissuche einen angemessenen Regulierungsvorschlag. Ist der Kunde damit einverstanden, wird die Summe automatisch auf das Konto des Kunden überwiesen. Mit wenigen Klicks bekommen unsere Kunden so schnell und einfach ihre Schäden erstattet.

Gleichzeitig wird der Fachbereich von Bagatellfällen entlastet. Zunächst bieten wir diesen Service im Bereich von Blitz- und Überspannungsschäden sowie zur Meldung von Stromkosten für Trocknungsgeräte bei Wasserschäden an. Hierzu sammeln wir erste Erfahrungen aus dem Produktivbetrieb. Die Erweiterung auf weitere Schadenarten ist in Vorbereitung.

Ricardo Tarli (Bild oben: Shutterstock, SFG)
– 7. September 2021